Was Sie schon immer über den Stromnetzausbau wissen wollten…
18.08.2016 12:33 von Sabine Driehaus
Dann und wann schrecken uns Schlagzeilen wie diese aus unserem Sommerloch:
„Stromtrassen werden noch später fertig -Vorrang für Erdverkabelung wirft Netzbetreiber um drei Jahre zurück“, und die entsprechenden Artikel lassen keinen Zweifel daran, wer Schuld ist, wenn es mit der Energiewende nichts wird.
Energieversorgern und Netzbetreibern zufolge droht uns bei einer dezentralen, verbrauchernahen Stromwende mit erneuerbaren Energien die Versorgungs-Apokalypse, und eine „Verschleppung“ des Netzausbaus behindere die Energiewende. Was ist dran an diesen Behauptungen?
„Nichts!“ meinen Wissenschaftler des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) und der Technischen Universität Berlin in einem im Juni diesen Jahres veröffentlichten Gutachten.
Es gibt keine Netzengpässe
Eine entsprechende Karte der Bundesnetzagentur zeigt es deutlich: Es gibt derzeit deutschlandweit keinen einzigen Netzengpass, der eine Drosselung der Ausbaugeschwindigkeit erneuerbarer Energien rechtfertigen würde. Der Anteil der erneuerbaren Energien am Strommix ist in den letzten 10 Jahren von 10 auf 33 Prozent gewachsen, ohne dass es ernste Probleme bei der Energieversorgung und der Netzstabilität gab. Angaben der Bundesnetzagentur zufolge ist das deutsche Stromnetz sogar noch sicherer geworden: Mit 99,998 Prozent Zuverlässigkeit liegt es weltweit mit an der Spitze. Von einer „Verschleppung“ des Netzausbaus, die die Energiewende behindert, kann also gar keine Rede sein. Auch die Kosten für Systemdienstleistungen (z.B. Regelung des Netzes, Vorhalten von Reservekraftwerken usw., aber auch für Maßnahmen gegen eine Netzüberlastung = „Redispatch“) sind in den letzten Jahren gesunken.
Der Netzausbau erhöht den CO2-Ausstoß
Das Gesetz gibt vor, dass das Netz allen bereitgestellten Strom transportieren muss, und zwar nach dem „Merit-Order“ Prinzip (günstigster Strom zuerst). Da Kohlestrom aufgrund niedriger Preise für Rohstoffe und Verschmutzungszertifikate börsentechnisch gesehen billig ist, wird also auch viel Kohlestrom eingespeist. Bei einem Stromüberschuss könnten zwar auch Kohlekraftwerke heruntergefahren werden; sie sind allerdings deutlich unflexibler als erneuerbare Energiesysteme und gehen bei häufigem An- und Abschalten schlicht und einfach kaputt. Also lässt man sie laufen und exportiert den überschüssigen Strom. Um möglichst viel Strom transportieren und exportieren zu können, braucht man wiederum starke Leitungen. Der Energiewende und dem Klimaschutz sind diese dann allerdings kaum dienlich.
9 Prozent Eigenkapitalrendite bei Trassenneubau
In Zeiten, in denen das Sparbuch bestenfalls eine externe Geldaufbewahrung darstellt, können Anleger von einem solchen Zinssatz normalerweise nur träumen: Gemäß Anreizregulierungsverordnung streichen Investoren in den Netzausbau 9 Prozent Rendite auf ihr investiertes Kapital ein, ein Vielfaches der Rendite von vergleichbar risikoarmen Anlagemöglichkeiten. Entsprechend groß ist der Druck auf Politik, Industrie und Öffentlichkeit, den Netzausbau möglichst „aufzublähen“.
Es gibt kostengünstigere Alternativen
Im Sinne der Energiewende und des Klimaschutzes muss die Optimierung des Netzes Vorrang vor Verstärkung und Ausbau haben. Möglich ist das beispielsweise durch moderne Technologien im Bereich Leiterseilmonitoring (Temperaturüberwachung der Leiterseile; wenn sie heiß werden, hängen sie durch und leiten schlechter) und Hochtemperaturseile, durch ein vernünftiges Management der Einspeisung von fossilem und erneuerbarem Strom und eine regionale Preisgestaltung („Nodalpreise“), sowie mehr Redispatch-Maßnahmen.
Wir brauchen keine 380 kV- Trasse in Bissendorf
Wir schlagen vor, intensiv darüber nachzudenken, vorhandene Trassen zu nutzen, nicht auf 380 kV zu verstärken, sondern zu modernisieren und optimieren, und bei Konflikten mit z.B. Wohnbebauung die Trassenführung entsprechend zu modifizieren, bzw. die Kabel in die Erde zu verlegen. Die Gemeinde hätte somit ausreichend Spielraum für eine umweltverträgliche Ortsentwicklung, und die finanzielle Belastung für die Bürger, die sowohl die Kosten für den Netzausbau als auch die ihn begleitenden Kompensations- / Anreizzahlungen zur Akzeptanzsteigerung über die Stromrechnung tragen müssen, fiele deutlich geringer aus.
Eine Win-Win-Situation für alle Beteiligten.
Lesenswert: Claudia Kemfert, Christian von Hirschhausen und Clemens Gerbaulet: Stromnetze und Speichertechnologien für die Energiewende – Eine Analyse mit Bezug zur Diskussion des EEG 2016
Ein Gutachten im Auftrag der Hermann-Scheer-Stiftung
Politikberatung Kompakt 112, DIW Berlin 2016
https://www.diw.de/sixcms/detail.php?id=diw_01.c.536891.de
In eigener Sache…
Wie in der Juli-Ausgabe des Blickpunkts bereits angekündigt, fand Anfang August ein Gespräch zwischen Mitgliedern des Vereins „Saubere Energie für Bissendorf“ und Wissenschaftlern des Projekts „Net-Future-Niedersachsen“ statt. In der nächsten Ausgabe werden wir über das Gespräch berichten und auch noch einmal zum Artikel „Dinner for one“ im letzten Blickpunkt Stellung nehmen.